U. Haefeli: Mobilität im Alltag in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert

Cover
Titel
Mobilität im Alltag in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert. Unterwegs sein können, wollen und müssen


Autor(en)
Haefeli, Ueli
Reihe
Verkehrsgeschichte Schweiz 4
Erschienen
Zürich 2022: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 48.00
von
Paul Schneeberger

«Die verbreitete Vorstellung, dass die Mobilität der Menschen im Laufe der Zeit einfach immer zugenommen hat, erweist sich bei genauerem Hinsehen als unhaltbar.» Dieser Satz ist die Schlüsselerkenntnis in der 2022 erschienenen Synthese Mobilität im Alltag der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert. Ueli Haefeli, Titularprofessor an der Universität Bern, bündelt in dieser Publikation den aktuellen Forschungsstand zum Mobilitätsverhalten der Menschen in der Schweiz sowie zu den Rahmenbedingungen und Bedürfnissen, die dieses prägen. Wesentliche neue oder nun stärker fundierte Erkenntnisse basieren auf dem Nationalfonds-Forschungsprojekt «Mobilität im schweizerischen Bundesstaat», das zwischen 2014 und 2018 an der Universität Bern durchgeführt wurde und dessen operativer Leiter Haefeli war.

Neben 27 Bachelor- und Masterarbeiten waren auch zwei Dissertationen Bestandteil des Projekts, deren Erkenntnisse die neue Darstellung prägen: Markus Siebers Arbeit zur Mobilitätsgeschichte seit 1918 und Benjamin Spielmanns Studie zur Alltagsmobilität in der Schweiz zwischen 1848 und 1939. Auf Sieber nimmt Haefeli insbesondere im Zusammenhang mit der Pendlermobilität Bezug, und der Titel von Spielmanns Dissertation, «Und im Übrigen ging man zu Fuss» ist das ceterum censeo, das die Synthese durchzieht.1 Indem Haefeli die Bedeutung des Fussverkehrs in den jeweiligen zeitlichen Kontexten immer wieder unterstreicht, räumt er dieser Fortbewegungsart in der schweizerischen Mobilitätsgeschichtsschreibung jenen Platz ein, den sie dort verdient.

Apropos: Der Begriff Mobilität zur Beschreibung von Überbegriff, Forschungsprojekt und Synthese ist in diesem Fall bewusst gewählt. Er orientiert sich an einem Verständnis, das breiter angelegt ist als die klassische Verkehrsgeschichte. Der Umweltwissenschaftler Markus Profijt hat dieses in einem einzigen Satz prägnant auf den Punkt gebracht: «Mobilität benötigt den Verkehr zur Ortsveränderung.»

Ueli Haefeli wählt als Zugang zu den Antworten auf die Frage, wie sich die Mobilität der Menschen in der Schweiz seit der Gründung des Bundesstaates verändert hat, drei Schritte: Zuerst rollt er die relevanten Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und Infrastruktur aus, dann wendet er sich den Bedürfnissen und Kompetenzen der Menschen zu, um abschliessend zu resümieren, welche Wendungen die Mobilität der Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz in den vergangenen gut 150 Jahren genommen haben. Zu den markanten Erkenntnissen, die Haefeli herausstreicht, gehört der gleichsam «politikfreie Automatismus» der in einem breiten Konsens aus der zu kurz greifenden Gleichung «mehr Verkehr führt zu mehr Wirtschaftswachstum und Lebensqualität» abgeleitet wurde. Er hat der Schweiz Verkehrsfinanzierungsmechanismen beschert, die von den Verteilkämpfen in den ordentlichen Budgetprozessen nicht tangiert sind.

Auch wenn erst die Eisenbahnen und später die Autobahnen die Distanzen in der Schweiz schrumpfen liessen und die Siedlungsstruktur des Landes umpflügten: Die Darstellung Haefelis macht deutlich, dass der Kipppunkt, der die Mobilität ab den 1950er Jahren zu einem allgemeinen Gemeinde- und Kantonsgrenzen überschreitenden Alltagsphänomen machen sollte, drei Jahrzehnte früher zu suchen ist. Bis dahin hatte die Eisenbahn vor allem den Gütertransport revolutioniert, und sowohl städtische Strassenbahnen als auch Autos waren Transportmittel, an denen sich privilegierte Schichten erfreuten. Ab den 1920er Jahren pendelten sich die Tarife der öffentlichen Verkehrsmittel auf einem für breite Schichten verkraftbaren Niveau ein. Zudem wurden in jenen Jahren wesentliche Voraussetzungen für die Expansion des individuellen Strassenverkehrs geschaffen – zuerst mit der Zweckbindung von Teilen der Einnahmen des Bundes aus der Mineralölsteuer für den Bau und Unterhalt von Strassen, dann durch einen rechtlichen Rahmen, der aus öffentlichen Räumen Verkehrsräume machte.

Und dennoch: «In mancher Hinsicht waren in vormodernen Verhältnissen die Menschen sogar mobiler als heute», schreibt Ueli Haefeli, denn: «Im betrachteten Zeit-raum verschoben sich die Schwerpunkte zwischen den verschiedenen Formen der Mobilität grundlegend: Auswanderung, Abwanderung, Binnenwanderung, Wohnsitzmobilität, interkantonale Migration, Landflucht, Pendlermobilität, Tourismus, Freizeitmobilität, Arbeitsmobilität. Mobilität als Faktor der Produktion, Mobilität als Konsum.»

Diese verschiedenen Ausprägungen waren eng mit den jeweiligen Entwicklungsstadien des Landes auf seinem Weg von einer agrarisch geprägten Welt über einen Industriestaat bis zur heutigen Dienstleistungsgesellschaft verflochten. Aus dem vor 100 Jahren üblichen Umzug an den Arbeitsort, der zu einer hohen Bevölkerungsfluktuation insbesondere in den Städten führte, wurde eine Routine des Pendelns, mit der sich berufliche Veränderungen in der Stadt und Sesshaftigkeit beim Wohnen auf dem Land unter einen Hut bringen lassen. Einen Kontrapunkt zu flüchtigen zeitgenössischen Interpretationen setzt Ueli Haefeli auch, was die Versorgung der Haushalte angeht: Dass Waren den Weg direkt über die Haustüre und nicht über Einkaufsläden zu ihrer Kundschaft finden, ist, zumal auf dem Land, kein neues Phänomen. Hausierer und auch der Migroswagen waren einst verbreitete Formen von «home delivery».

So reflektiert und umfassend diese neuste Bestandsaufnahme der verkehrshistorischen Forschung zur Schweiz geraten ist: Zusätzlich gewonnen hätte sie durch den Einbezug der alltäglichen grenzüberschreitenden Mobilität, die in einem kleinen Land ohne eigene Rohstoffe ein substanzieller Faktor ist. Der Bogen hätte sich dabei von der Ankunft der Südfrüchte mit der Gotthardbahn bis zum Umbau der Luftfahrt in ein Billigverkehrsmittel schlagen lassen.

1 Vgl. die Besprechung von Tiphaine Robert in dieser SZG.

Zitierweise:
Schneeberger, Paul: Rezension zu: Haefeli, Ueli: Mobilität im Alltag in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert. Unterwegs sein können, wollen und müssen. Zürich 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(2), 2023, S. 218-220. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00127>.

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